Im Rampenlicht

Die Augusto-Kolumne - diesmal ein letzter Aufruf fürs Innehalten.

Von Tom Vörös
Kolumnen-Autor Tom Vörös in Aktion.
Kolumnen-Autor Tom Vörös in Aktion. © DDV-Media

Lieber Zeitgeist,

wer die akuten Aufgeregtheiten einmal beiseite schieben und vergessen möchte, dass kulturell noch nicht allzu viel geht – es gibt ein Live-Konzert, das seit Jahren völlig losgelöst von Ihnen, lieber Zeitgeist, voll im Gange ist. Es begann bereits im Jahr 2001 und soll erst anno 2640 enden, nach schlappen 639 Jahren. Gut 20 Jahre kann man nun schon einem Stück namens „ORGAN²/ASLSP“ des amerikanischen Komponisten John Cage (1912-1992) in der Sankt-Burchardi-Kirche in Halberstadt lauschen – es ist das langsamste und längstandauernde Orgelstück der Welt. Letzten Sonnabend fand mal wieder ein spektakulärer Klangwechsel statt. Ein gis-Ton verschwand aus dem alten Akkord. Viele Besucher kamen zu diesem Ereignis. Jetzt erklingt ein neuer Akkord, der inzwischen 15. Der nächste Wechsel erfolgt dann in zwei Jahren. Man hat also noch genug Zeit, die Töne in aller Seelenruhe in sich aufzunehmen.

Es ist schon bemerkenswert, lieber Zeitgeist, dass selbst Ihnen gewisse Dinge aus den Händen gleiten können. Angesichts dieses musikalischen Grußes in die gefühlte Ewigkeit erscheinen selbst ewige Musikkarrieren – sorry, Mick Jagger – wie ein kurzer Windhauch im Nacken eines euphorisch mitsingenden Fans.

Vielleicht können wir und selbst Sie, lieber Zeitgeist, von John Cage noch etwas lernen, wenn wir fragen: Wieviel Lärm um nichts kann uns wirklich aus der Ruhe bringen? Wann ist ein guter Moment, ein 639 Jahre langes Konzert zu besuchen? 2022 oder zehn Jahre später? Das Ende wird man ja nicht erleben. Und: Erscheint uns im Nachhinein die stille Gegenwart wirklich so lang, wenn das Kulturleben erst mal wieder, in aller Vielfalt und in ganz bestimmten Momenten, uns die Ewigkeit vor Augen führt?